Die Inszenierung
©opyright Iris Hoth, 1998

Zweifellos war der Kran für die Ausführung des Vorhabens am besten geeignet. Seit einem halben Jahr stand er am Hafen, riesengroß mit seinen bestimmt zwanzig Metern. Man konnte ihn von der ganzen Stadt aus sehen. Ein grandioses Vorhaben braucht einen grandiosen Rahmen. Der Kran war genau richtig dafür.

Saskia überprüfte das sofort. Auf dem Weg durch die schmalen Gassen gab es natürlich keinen Kran zu sehen, aber am Ende der Schneise der stadtteilenden Hauptstraße zeigte er wieder seine imposante Silhouette. Ebenso war er vom Park und vom Fluß her zu sehen, von den höhergelegenen Häusern aus sowieso. Saskia prägte sich das Bild des Kranes ein - "Bist du mein Verbündeter bei diesem Plan?" Dann ging sie zurück zum Haus und in ihre Wohnung. Sie mußte nachdenken.

"Wer spricht denn mit einem Kran? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Papperlapapp... einsame Menschen sprechen mit ihrem Hund, mit Bäumen und nun... auch noch mit einem Kran? Wer soll das abkaufen? Nein, definitiv NEIN, das kann so nicht stehen bleiben."
 
Saskia prägte sich das Bild des Kranes ein. War er die richtige Wahl, ihr Verbündeter bei diesem Plan? Sie dachte nach. Die großartigste Liebe hatte sie erlebt, und ihr war der großartigste Schmerz gefolgt. Aber niemand hatte ihr Beachtung geschenkt. Einmal wollte sie auftrumpfen. Niemand würde sie übersehen können. Und wenn dieser Auftritt auch ihr definitiv letzter sein würde, so würde er doch auch unvergeßlich sein. Sie lief als Fackel durch die Nacht. Nein, sie lief nicht, sie stand ganz still, würdevoll im Feuer. Das war ein guter Gedanke, aber – das wußte sie – er war auch undurchführbar. Mit dem Feuer würde der Schmerz sie auffressen, und Schmerz, körperlicher, unerträglicher Schmerz war mit Würde unvereinbar. Unerträglich... war eigentlich nichts, dachte sie weiter. Während wir es ertragen, erscheint es so, aber derweil ertragen wir es schon. Nun, wie dem auch sei. So stellte sie es sich nicht vor, und sie verwarf die Idee mit der Fackel. Sie brauchte nicht in Flammen zu stehen, sie brannte sowieso. Sie wollte nicht schreien, keinen Schmerz. Alles was sie wollte, war eine spektakuläre Inszenierung, eine großartige Schlußeinstellung.

"Wollen wir alle, keine Frage. Zumindest solange wir jung sind. Aber wer will die Schlußeinstellung sehn? Du liegst da völlig falsch, die Idee taugt nichts. Die Zuschauer werden weitergehen und vermeiden zu sehen, was sie gesehen haben."

"Aber sie werden es nicht leugnen können. Sie werden es sehen MÜSSEN!"

"Haha, Mädchen, in welcher Welt lebst du? Jeder sieht das, was er will. Und nicht mehr. Es ist nicht mein Job, die Zuschauer zu vergraulen. Nichts da, magnetisieren will ich sie, in den Bann ziehen. Laß dir was einfallen!"

 
In Gedanken hatte Saskia den Weg zum Kran zurückgelegt. Nun stieg sie empor. Gab es da eine Leiter? Sicher gab es eine, es mußte eine geben. Der Blick in die Tiefe – schwindelerregend – fast wäre sie gestürzt, und dann wäre es vorbei gewesen mit der großartigen Schlußeinstellung. Sich über den langen Arm des Kranes hangelnd, ganz würdelos, die Angst vor der Tiefe, nur von ihrem Vorhaben angetrieben. Sie rutschte vorsichtig auf dem Hintern vorwärts, ihre Hände klebten an dem kalten Metall des Krans.

"Zum Kichern, wahrhaft ein würdevolles Bild!"
 
Saskia lehnte sich ermüdet zurück. Der Plan, am höchsten Aussichtspunkt zu baumeln, ihr toter Körper würde die Welt verklagen. Deren Wehgeschrei, die sich nie gekümmert hatten, auf diese Weise hätte sie es ihnen heimgezahlt. Aber es ging nicht. Je länger sie darüber nachdachte, umso undurchführbarer war der Plan. Sie würde auf halber Höhe scheitern. Konstatierte: Saskia, du bist keine Heldin.

"Was ist das überhaupt für ein name? Saskia, so heißen Prinzessinnen, Zarentöchter... Ja, ja, ich weiß, die hieß Anastasia. Was weiß ich, es gab ja nicht nur eine. Aber Saskia, so heißt doch kein normaler Mensch. Damit kann sich keiner identifizieren. Sie ist das Besondere? Ach, Mädchen, da ist aber auch gar nichts Besonderes an ihr, höchstens besonders armselig ist sie. Schau sie dir doch an."

"Margit? Ist Margit genehm?... "

 
Margit lehnte sich ermüdet zurück. Sie würde auf halber Höhe scheitern. Konstatierte: Margit, du bist keine Heldin.

"Und jetzt? Das war ja wohl ein Blindgänger. Versuch's doch mal mit was Einfachem, du weißt: weniger ist oft mehr."
 
Tabletten, Gift... aber nein, sie wollte nicht jämmerlich krepieren. Und als Krüppel enden wollte sie auch nicht. Am wenigsten wollte sie Gefahr laufen, daß man ihr den Magen auspumpte, und anstelle des schauderlichen Ruhms würde sie Mitleid ernten. Oder nicht mal das, Verachtung. Abgase ins Auto leiten, dazu war sie zu wenig technisch versiert, sie traute diesem Vorhaben nicht. Blieben die Pulsadern, morgens würde man sie in der roten Lache ihres Blutes finden. Wieso morgens? Es würde Tage dauern, bis jemand sie suchte. Und man mußte tief schneiden, verdammt tief, das war es auch nicht.

Warum grinst der Regisseur? Der Regisseur grinst, verbeißt sich kaum ein Lachen.

"Eine feine Heldin ist das, zu allem zu feige."

Mach's doch besser. Idiot!

 
Margit, immer noch an ihrem Tisch sitzend. Längst ist es dunkel draußen, die Schlafengehenszeit überschritten. Wenn sie jetzt den Plan fallen ließe, würde sie morgen übermüdet zur Arbeit gehen. Sie mußte zu einem Entschluß kommen. Margit entschloß sich unmittelbar, Jacke, Zigaretten, ein paar Schritte zum Auto, überprüfte das Abschleppseil im Kofferraum, fuhr los.

Zwanzig Kilometer Landstraße, bevor sie in den Wald einbog. Drei Kilometer weiter waren die Autobahnauffahrten, diese Straße war morgens viel befahren. Die kleine Brücke kannte sie gut, war zigmal unter ihr hindurchgefahren. Nun kletterte sie die betonierte Seitenschräge hinauf, das Abschleppseil über die Schulter geworfen. Zu ihrem Erstaunen fand sie oben ein Gleisbett. Sie hatte hier nie einen Zug fahren sehen – vielleicht war die Strecke stillgelegt, zwischen dem Schotter wuchs Gras – hatte den Übergang für eine Fußgängerbrücke gehalten. Sie zog das Ende des Seils durch die Schlaufe des anderen, das gab eine gute Schlinge, die sich selbst zuziehen würde. Dann legte sie das Seil um einen Pfosten des Brückengeländers und schloß den schweren Eisenhaken. Das würde allemal halten, es war schließlich für ein ganzes Auto konzipiert. Margit legte die Schlinge um ihren Hals und zog sie fest. So stand sie auf der Brücke.

"Wie ein angebundener Hund. Und jetzt? Springt sie, oder springt sie nicht? Was soll das Ganze? Na gut, laß sie springen, dann kann ich wenigstens nach Hause gehn."
 
Es war verdammt kalt. Nach den paar Minuten, die sie auf der Brücke war, lag die enge Hose wie Eis an Margits Beinen. Sie fror, das war nicht der richtige Moment, um zu frieren, sie hätte sich wärmer anziehen sollen. Überhaupt erstaunlich, daß es jetzt nachts schon so kalt war, jetzt im September. Der Himmel hatte keinen Stern, alle hinter unsichtbaren Schwarzwolken versteckt. Die Schlinge – dieses Seil war viel zu dick – lag unbequem um ihren Hals, sie sollte jetzt endlich Schluß machen. Sie würde über das Geländer steigen müssen. Das Geländer war so kalt wie der Kran, ihre Hände klebten daran. Späte Scheinwerfer, Margit ging in die Hocke und lehnte sich zurück... vorbei. Was für eine Kälte! Margits Hinterbacken und Schenkel zitterten, und sie konnte kaum das Klappern ihrer Zähne unterdrücken. Sie kramte die Zigaretten aus ihrer Jackentasche. Die letzte Zigarette...

"Springt sie jetzt endlich?"

"Die letzte Zigarette! Sie wird doch wohl eine letzte Zigarette rauchen dürfen."

"Ach, die wievielte letzte Zigarette raucht sie denn?"

Verfluchter Regisseur, verfluchter Idiot!

 
Die letzte Zigarette, ihre dritte, und die Kälte wurde immer unerbittlicher. Inzwischen schlotterte Margit am ganzen Leib. Ich springe jetzt, oder ich springe nie. Der Wald zur linken, rechts von ihr erstreckten sich die gewellten Felder, farblos in der Nacht, bei Tageslicht waren sie grün und näherten sich der Ernte. Weit entfernt einzelne Lichter eines Dorfes. Lichter aus Wohnzimmern, aus Kinderzimmern, ein Kind aus Alpträumen erwacht, die Mutter tröstet es. Hinter irgendeiner Wolke verborgen der Mond, er will nicht Zeuge sein. Kälte auf Margits Gesicht, ihre Finger schon klamm, sie hatte Mühe, die Zigarette zu halten. Sie versuchte, nicht zu frieren und zu schlottern, aber die Kälte war stärker als sie.

Plötzlich lachte Margit. Sogar ihr Lachen fror und zitterte. Was machte sie hier? Seit sie hier stand, hatte sie weder an Liebe noch an Menschen gedacht noch an irgendwas über diese Brücke hinaus. Es war alles Illusion. Das ganze Leben einschließlich dieser Brücke einschließlich des unsichtbaren Mondes einschließlich... Es lohnte sich nicht. Ebenso wenig wie es sich lohnte, irgendetwas zu beenden. Es wurde nur einfach Zeit, ins Warme zu kommen. Runter von der Brücke, ins Auto, nach Hause, ins warme Bett. Margit lachte und fror immer noch, als sie vorsichtig, schon reichlich steif und nicht ganz trittfest von der ganzen Kälte, über die Schräge von der Brücke kletterte und dann mit weichen Knieen zum Auto ging.

"Na also, warum nicht gleich so? Und weißt du was? Den ganzen Film kannst du dir sparen, das ist nichts. Ich geb dir nen guten Rat, Mädchen. Schreib ne Liebesgeschichte. Das mögen die Leute. Schreib sie so großartig, wie du willst. Große Gefühle sind wieder schwer im Kommen."

"Aber..."

"Nichts aber!"

"Aber die Geschichte..."

"Was für eine Geschichte?"

"Margit's Geschichte."

"Schreib sie um. Mach eine Liebesgeschichte draus. Und nenn sie nicht Margit, das ist viel zu Profan. Nenn sie Saskia, das regt die Leute zum Träumen an."

 
Saskias Geschichte. Die großartigste Liebe hatte sie erlebt, und der großartigste Schmerz war ihr gefolgt. Rührender Anfang, rührender, melodramatischer Schluß. Wie alles begann...


 
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