Peter B. bricht aus der Deckung
©opyright Iris Hoth, 2002

Wahrscheinlich ein junger Mensch. Aber so genau wissen wir es nicht. In dieser Nichtwelt der Schatten ist kein Verlass, am allerwenigsten auf die Wahrnehmung. Männlich? Die jungen Männer tragen die Haare lang, und junge Frauen gehen unterm Stoppelschnitt. Und unter diesen Schichten, Formen, Rollfleisch und Hasenpfote, nein... man kann sich nicht sicher sein. Es ist wie damals im Krieg. Sie haben den Frauen die Köpfe kahl rasiert. Die Männer hatten Dynamitstangen in der Hose. Der gerußte Bub ist ein Mädchen, aber die Schwangere ist ein Mann mit Schwarzmarktware unterm Hemd. "Nachts ist dein Leib von Gottes Fieber braun."(1)

Anschein und Augenschein, Hand in Hand, schlendern, schlendern... "Führ mich in das Land, wo die gutmütigen Menschen leben."(2)
Da steht er/er?. Da spricht er/er?. Und von seinem Kinn tropfen die Worte, die ein karges Leben für ihn übrig ließ. Aus dem Rinnstein hat er sie gesammelt. Aus Mutters Fleischmast wie verwurmte Bohnenbrühe, aus Vaters Harthand - "Ich bin wie ein Kind, das nicht mehr weinen darf"(2) - Worte. Wie Aprilscherze, wie Adlerklauen, wie Blutwürmer, wie Schmetterbälle, "mein Mund schwingt Fackeln",(1) wie modriges Laub. Im Rinnstein hat er sie gesammelt, im Rinnstein. Und immer noch...
Gib acht, wo du deine Füße hinsetzt. Es ist schnell zertreten, was viele Jahre wuchs.

Also gerüttelt. Also sowieso unvollständig und auch irgendwie verkehrt. "Ich möchte so gern Wesen begegnen, die anders sind."(2) Und also...
Da steht er/er? mit lechzendem Gehirn, in das vielleicht achtzehn, vielleicht achtundvierzig Jahre den Sud der Kloaken tropften. Und die Lampe an der Ecke ist seinem Leben ein Stern, und das Leben ist ein Kammerspiel, durch das, beschissen intellektuell gesagt, gefällte Götzen toben.

Ein Buch. "Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte."(3) Ein Buch. "Das schlimmste kommt noch."(4) Ein Buch... ist schnell verschlungen. Mit einem Hirn wie ein Schwamm. Nur die Übung geht ihm ab, die Übung des Verstehens, des Merkens, aber er merkt trotzdem, auf merkt er: Kann es denn sein? Das leben kein "Lied in der Wüste"?(1)? Das Leben, kein Manta, kein Schlagring? Titten keine Melonen, Kitzler keine Gummibärchen, der Schwanz kein Hammer, der Bauch kein Geschwulst aus Wut und Zorn?
Das ist schwer zu glauben.

Er/er? kaut die Vernunft wie einen alten Knochen. "Tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser."(5) Ihr, ja ihr! Aber...
Er/er? ist sich nicht grün noch blau. "Ich hasse mich! Es ist ein eklig Ding."(5)
Er/er? liest jedes dritte Wort, jedoch jedes dritte Wort dreimal. Alle Worte sind ungewohnt.
Er/er? geht in die Nichtwelt der Schatten. Die Welt "der schwarzen Greise, Fürsten eins in ihrem Land."(2)
Er/er? "versuchte zu schreiben." Aber er/er? "existierte kaum."(4) Vielleicht wehte er als Blatt von einem Baum. Irgendein garstiger Wind hat ihn in den Rinnstein gefegt. Irgendein warmer Strahl Pisse - und das wo Andere die Donau besingen oder das Meer, aber es hat ja nicht jeder ein Schiff - das ist schon mehr Wärme, als er je ertrug.
"Wenn es zum Sterben ginge",(3) was sähe er? Ein Leben "verschluchzt in leeren Zelten",(1) ein Leben, ein Leben...

Wie dem auch sei. Wie ein Pferdeapfel schlägt er auf dem Pflaster auf. Zeitgleich modern und ein Anachronismus. Legende einer Jugend, die sich schnell verbraucht. Sie war vielleicht nie ganz echt, nicht ganz wirklich, nicht ganz vorhanden, auch nicht ganz nicht. Jedenfalls halten wir uns die Nasen zu, weil es nämlich stinkt. Und wenn wir uns die Nase nicht zuhalten, dann rümpfen wir sie doch wenigstens. Und er/er? zählt ein paar Namen an den Fingern ab. Und wir verachten ihn dafür, weil er nämlich diese Namen gar nicht kennen dürfte. Weil er nämlich ein Pferdeapfel ist, bestenfalls ein Stück Moder, ein Abseits unserer Intelligenz, eine Beleidigung für jedes Wort, das er sich vom Kinn wischt, das er in die Nichtwelt unserer Schatten rotzt. "Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen."(5)

Aber wir frieren nicht. Denn Schatten frieren nicht. Wir stehen wie ein Schatten und wie eine Mauer und sind so gesichtslos wie das Eine und wie das Andere. Wir erwärmen uns an der Suppe unserer Ideen, und dann gehen wir, und vielleicht pissen wir in den Rinnstein. Und...

Was soll überhaupt der ganze Scheiß?

 

(1) Paul Celan
(2) Michel Houellebecq
(3) Henry David Thoreau
(4) Charles Bukowski
(5) Friedrich Hölderlin


Literatur