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Ganglers Projekt

copyright Jens Richter, 1998
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Er dachte an seine löchrigen Socken und an seine Schuhe, die dem Attribut nicht minder genügten, als er wadentief in diese Pfütze trat. Er hielt inne, schaute sich um. Diese Pfütze schien ein Einzelstück zu sein auf diesem weiten Feld. Er war erleichtert. Er hätte es nicht ertragen, noch einmal diese seine Füße umspülende, eiskalte Brühe zu fühlen und das Geräusch zu hören, das die hinausflutenden Ströme verursachten, dieses Geräusch, das onomatopoetisch so treffend sein Lebensgefühl beschrieb: quatsch quatsch quatsch.
Wo nur dieser Friedhof blieb. Nicht irgendeine Todessehnsucht oder Nekrophilie trieb Grademann dem Friedhof zu. Gangler hatte sich mit ihm dort verabredet. Er wollte irgendeine sagenhafte Sache besprechen, irgendwas, das so wichtig sein sollte für die Zukunft der beiden.

'Leichen', philosophierte Grademann in den trüben Morgen, 'die haben's gut. Die liegen da herum und stinken vor sich hin, und man bringt ihnen Blumen. Unsereinen, wenn er nicht täglich die Haut verseift, die Achselhöhlen desodoriert und seinen Fußgeruch in diesen chlorophyllierten Schuheinlagen begräbt, werfen sie aus der U-Bahn.'
Er ging weiter, eingehüllt in eine Stoffmenge, die vor Jahren einmal den Titel 'Mantel' tragen durfte.

Gangler kannte er schon länger.Sie hatten zusammen so manche Mark geschnorrt, so manchen Roten gesoffen. Und jetzt hatte er wohl irgendeine große Sache laufen. so was, wie damals mit der Rollschuhbahn? Gangler wollte ein altes Parkhaus kaufen oder pachten und eine Rollschuhbahn draus machen. Aber irgendwie klappte das nicht. alte Parkhäuser gab's nicht, und mit der Genehmigung war's auch Essig, weil Gangler keinen festen Wohnsitz hatte, oder hatten sie nur so davon gesprochen?
Irgendeiner hatte da was angesproschen, damals auf der Bank. Gangler war gleich dabei, teuer könnte es nicht sein, vier Etagen Rollschuhbahn, das wär' überhaupt die Sache, aber dann waren sie weg vom Thema, wo Lotte wohl bleibt? Die bringt manchmal Schluck mit.

Gangler wollte immer irgendeine Sache ganz groß aufziehen, man müßte nur den richtigen Dreh finden.

Grademann fror. Er dachte wieder an die Pfütze. In die einzige Pfütze auf diesem riesigen Feld musste er natürlich treten. Er hatte immer Pech im Leben. Das fing im Kindergarten an und endete heute in dieser Pfütze. Sechzig Jahre Pech. Sechzig Jahre hatte er immer wieder versucht, rauszukommen aus allem. Er wollte die Kurve kriegen, den Bogen heraushaben, einmal der Erste irgendwo sein.

Er fingerte in der Innentasche des Mantels herum. Wo war sie bloß? Verflixt, er hatte doch noch eine Flasche, eine kleine. Mist, die war weg.

Endlich, da war der Friedhof, vielleicht hatte Gangler ja wirklich irgendein tolles Ding gedreht. Grademann war sich jetzt sicher. Er beschleunigte seine Schritte, das Blut schoss ins Gesicht, verdunkelte das Rot, sein Puls raste, er war nicht mehr jung, er hatte seit einer Woche nichts mehr gegessen, aber jetzt sollte es anders werden, er lachte heraus, er weinte vor Rührung, Gangler! Wir haben's geschafft.

Da sitzen sie alle, großes Hallo, jeder eine Plastiktüte, Gangler erhebt sich, fasst Grademann an den Schultern. "Mensch, alter, endlich kommst du, heut haste Geburtstag! Schon vergessen? Wir haben hier ne große Sache laufen, setz' dich, trink einen!"
Grademann ist bestürzt. Das ist die große Sache...jetzt trinkt er in tiefen Zügen. Wo Lotte wohl bleibt? Die bringt manchmal Schluck mit.

 

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