Alex schreibt GedichteCopyright Iris Hoth, 1999zur Navigation
Alex saß auf dem Balkon. Es ist überhaupt nichts Besonderes, auf dem Balkon zu sitzen, und auch der Tag (es war ein Sonntag) war kein besonderer. Trotzdem spürte Alex etwas Ungewöhnliches, etwas was diesen Tag von allen bisherigen unterschied. Ein inneres Drängen spürte er. So als stemmte sich ein Schmetterling gegen den harten Kokon, wollte hinaus. Diesem Drängen folgend holte Alex einen Stift, ein Stück Papier fand er auch, und setzte sich erneut nach draußen. Eine Weile hielt er den Stift zwischen den Zähnen, eher er schrieb. Er schrieb:
Was wäre denn die Rose
ohne die fleißige Biene? Und was wär die Biene, gäbs nicht das Blütengestäub? Die Fuchsienglocken hör ich läuten, und der kleine Dompfaff singt, als Kelch und Rüssel sich vermählen. Und die Sonne leuchtet den Tagliebenden. Nachdem Alex die Zeilen gschrieben hatte, fühlte er sich erleichtert. Er legte den Stift zur Seite, und das Blatt, nachdem er noch einmal und staunend darüber gelesen hatte, legte er zu den Strümpfen in die Schublade. Dann setzte er sich wieder auf den Balkon. Das Geländer würde er schleifen und neu streichen müssen. Und aus der Holzverkleidung der Gaube hatte sich eine Lamelle gelöst. Die lehnte nun an der Wand, und es war wirklich nicht das Dringlichste, sie wieder einzusetzen. Schließlich war er gerade erst eingezogen und die ganze Wohnung renovierungsbedürftig und ein verwahrlostes Durcheinander. Am nächsten Morgen ging Alex wie gewohnt zur Arbeit, und eh es Abend wurde, hatte er die Zeilen auch schon vergessen, die am Vortag so erstaunlich aus ihm herausgequollen waren. Als er jedoch am darauf folgenden Samstag wieder auf dem Balkon saß (er hatte nur ein paar Atemzüge verschnaufen wollen vom Kistenrücken), da befiel ihn erneut dieser Drang. Alex holte den Stift, und weil er kein Papier mehr fand, riss er ein Stück von der Tapetenrolle (dünne Rauhfaser) ab und schrieb:
So sinnlich deine Lenden
Du kommst zu mir im Traum Und mit deinen beiden Händen Liebkost du den Baum. Und meine Borke schmilzt Und mein Holz, es pocht. Auf meinen Zweigen schläfts du ein Und Blätter falt ich über dich. Mich so zu erwecken Hat keine vor dir je vermocht. Wieder legte Alex den Stift fort und das Papier zu dem anderen in die Schublade. Aber kaum saß er erneut draußen, überkam es ihn auch schon wieder:
Wie süß duftet doch der Flieder!
In der Allee legt er eine breite Fährte mir. Wie könnte ich mich da verirren auf meinem Weg zu dir. Den Rest des Samstags und auch den ganzen Sonntag verbrachte Alex damit, Ordnung zu schaffen. Er wunderte sich selbst, woher all die Kisten kamen, die er teils in den Keller verfrachtete, teils ausräumte. "Ich hab was Komisches" sagte er am Montagmorgen zu seinem Kollegen Schorsch, als sie nebeneinander vor ihren Spinden standen. "Was denn?" Und Alex reichte ihm das Stück Tapete mit dem Fliedergedicht. "Was is'n das?" fragte Schorsch, nachdem er die Zeilen überflogen hatte. "Ach nichts. Hab ich in der Wohnung gefunden." "Da hat wohl voher ein schöner Spinner gewohnt, was?" Und mit einem gutmütigen Lachen "Jetzt aber an die Arbeit, Kumpel" gab Schorsch den Fetzen zurück. Mit mulmigen Gefühlen erwartete Alex indes das nächste Wochenende. Und richtig – kaum saß er draußen, ging es wieder los:
Das Leben ist famos.
Es gehört den Dieben. Und einer von ihnen bin ich. Ich weiß auch nicht warum, sicherlich ist die Welt nur für jene so groß, die sich nehmen, was sie lieben. Die Gedanken und Worte, die er zu Papier, besser gesagt: zu Tapete brachte, waren Alex fremd, Für dich gäb ich mein letztes Hemd
aber wenn es ihm auch zunehmend unheimlich wurde, so konnte er doch nicht anders, als zu schreiben, So wird es immer bleiben
und anstatt eins ums andre Mal Du bist das Fleisch, ich bin der Pfahl.
nach Stift und Tapete zu laufen, holte er schließlich beides auf den Balkon. Sieh! Ein bunter Ballon...
Bald sah man ihn wie einen Hasen auf der ausgerollten Tapetenbahn sitzen und sie beschriften. Und die Träume driften...
Am Abend, nachdem es dunkel geworden war, verfiel Alex an Ort und Stelle in einen erschöpften, aber unruhigen Schlaf,
Da auf der Wolkenweide
zwei Lämmlein und ein Mutterschaf der schwer war von Bildern und Reimen. Gleich nach dem Aufwachen, ohne sich Zeit für ein Frühstück zu nehmen, schrieb Alex weiter. Ein Regenguss vertrieb ihn kurzfristig ins Haus, wo seine Gedanken sich so weit klärten, um den Chef anzurufen und sich von der Arbeit krank zu melden. Er habe Fieber.
Fieber, Fieber, wie im Fieber.
Das Blut rauscht laut und heiß. Und tugendlos schlägt das Herz. Da seh ich sie, da kehrt sie wieder. Und keiner hilft mir, keiner weiß von meinem großen, großen Schmerz. Nachdem sie in der Firma von Alex nichts weiter hörten, machte Schorsch sich schließlich am Donnerstag auf den Weg, um nach seinem Kollegen zu sehen. Er fand ihn in einem bedauernswerten Zustand inmitten von Tapetenbahnen auf dem Balkon sitzend. Seine Frage, wie es denn gehe, erntete seitens des Bedauernswerten nur einen wirren Blick. Schorsch blickte sich in der Wohnung um. Ein wildes Durcheinander, wohin er auch sah. Es musste tapeziert und gestrichen werden. Auf dem Balkon war das Geländer zu schleifen und ebenfalls zu streichen. Schließlich stand da noch eine Lamelle, die sich aus der Holzverkleidung der Gaube gelöst hatte und neu einzusetzen war. Nachdem Schorsch (wozu nicht viel gehörte) erkannt hatte, dass sein Kumpel keineswegs zu dieser Arbeit im Stande war, entschloss er sich zu einem Anruf in der Firma. Der Chef, kein Unmensch, bewilligte Schorsch angesichts der geschilderten Lage und der ohnehin gerade mäßigen Auftragslage zwei Tage unbezahlten Urlaub und schickte ihm obendrein den Lehrling, damit der ihm zur Hand ginge. Zu zweit waren sie bald darauf bei der Arbeit, wobei der ein und andere neugierige Blick des Lehrbuben zu Alex wanderte.
Und wanderte ich im finstren Tal,
Oh, Ungemach und heißer Sand, Gestalten seh ich überall zu Salzsäulen erstarrt im Land. "Halts Maul, Alex!" herrschte Schorsch ihn an und gleich darauf und erheblich sanfter zum Lehrbuben gewandt "Komm Krischan, mach voran. Je eher wir hier Ordnung gemacht haben, umso besser isses." Dabei gelang es auch Schorsch kaum, Unruhe und Sorge zu unterdrücken. So etwas hatte er nicht mehr gesehen, seit der alte Max verrückt geworden und irgendwann vom Dach gefallen war. So sollte es dem Kumpel hier nicht ergehen.
Wir warn es doch gewöhnt,
dich als den zu sehn, der eitlem Leben frönte. Doch erst durch die Pforte deiner Worte sahn wir DICH. Du bist das Diadem, das eine Seele krönte. Du stirbst, doch lebst du ewiglich! "Komm, Krischan, mach voran!" Sie hatten jetzt alle Tapetenbahnen geklebt. Alex hatte sich nicht gewehrt, als Schorsch sie eine nach der anderen – nur die eine, auf der Alex grade saß, beließ Schorsch draußen – vom Balkon nach drinnen holte, einkleisterte, zusammenlegte, um sie dann an die Wand zu bringen.
Und müsst ich mit dem Teufel ringen,
wärst du dann bei mir? Die Zeilen, die Alex darauf geschrieben hatte, erschienen Schorsch wirr, und bald gab er es auf, die Schrift zu entziffern.
Und müsst den Drachen ich bezwingen,
wärst du mein Lebenselexier? "Geh, Krischan, rühr schon mal die Farbe an!"
Wärst du die eine Rose,
die am Busch mir blüht? Wärst du die Herbstzeitlose, die mit mir verglüht? Das Rollen der Wände konnte Schorsch dem Lehrbuben getrost überlassen. Währenddessen begab er sich selbst auf den Balkon und besah sich die Lamelle. "Kumpel! Haste Nägel da?" Aber Alex schaute Schorsch nicht einmal an, er schaute durch ihn hindurch, ohne die Frage zu beantworten.
Wo du auch bist, und allerorten
find ich dich. Schorsch machte sich also selbst auf die Suche und kramte kurz darauf aus einer Schachtel ein paar Nägel hervor. Du bist der Weg, ich bin das Tor.
Er passte die Lamelle ein, da wo sie herausgefallen war, und gleich darauf hatte er sie mit ein paar gezielten Hammerschlägen wieder befestigt. Nicht fachmännisch, aber es würde halten. Während er noch die Lamelle betrachtete, wunderte Schorsch sich über die plötzliche Stille hinter ihm. Besorgt drehte er sich zu seinem Kollegen um. Und wie aus einer weiten Ferne sah er Alex Blick, der ihn eben noch durchdrungen hatte wie einen körperlosen Geist, zu sich zurückkehren. Jetzt ein plötzliches Erkennen darin, als Alex zu Schorsch aufsah. "Schorsch?" "Ja Kumpel." Verwundert schaute Alex sich um – "Was machst du denn hier?" woraufhin Schorsch nur mit den Schultern zuckte – gewahrte den Lehrbuben in der Stube und staunte. "Habt ihr das gemacht?" fragte er, auf die tapezierte und nun schon fast komplett geweißte Wand zeigend. "Jo." Alex beguckte sich die Wand und nickte. Dann ging er zurück auf den Balkon, besah sich die eingesetzte Lamelle und nickte abermals. "Gut. Sehr gut." Und nie wieder seitdem hat Alex je ein Gedicht geschrieben.
|
Navigation
Ab hier folgen nur noch optische Hilfsmittel.
TIPP: Einstellung der HOME-Seite bleibt bei aktivierten Cookies auf allen Seiten erhalten.
|