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Heut morgen auf'm Amt

Copyright Iris Hoth, 1999
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Ich hab's tatsächlich geschafft, pünktlich zu sein. Na gut, nicht ganz pünktlich... acht Uhr, das ist schließlich fast noch nachtschlafene Zeit. Wie schnell man sich doch daran gewöhnt und der Lebensrhythmus umgestellt ist von Tag auf Nacht, und dann ist acht Uhr halt noch nachtschlafene Zeit. Aber fünf Minuten später steh ich vor der Tür, und da geht es auch schon los. Öffnungszeit ab acht steht da, nun ist es fünf nach acht, und die ganze Herde steht noch vor der Tür. Ich bin sicher, die machen das mit Absicht. Bestimmt... hier wird dir gezeigt, wo du hingehörst, was du von dir zu halten hast und sowieso: was die von dir halten.

Also schau ich mir die Herde an. Wer hat gesagt, Arbeitslosigkeit sei keine Schande mehr? Schau sie dir an, die armseligen Gestalten. Ich identifiziere unschwer den Alkoholiker.. man sieht's an dem leicht glasig starren Blick, der auch nach stundenlanger Abstinenz nicht mehr ganz wach wird, den fettleibig und sicher nach einem Treppenabsatz schon hyperventilierenden Mittfünfziger... keine Chance für diese beiden, mache ich eine gedankliche Notiz, das stämmige Weib mit dem unübersehbaren Damenoberlippenbart, leicht angeschmuddelt die orange Jacke, aber kräftig ist sie... vielleicht in die Konfektionierung? Ein paar mit verschlossenen Gesichtern, die ganz genau wissen, welches ungerechte Los das Leben ihnen da zugeschoben hat, und sie halten verbissen daran fest. Und dann steht da noch diese Frau, Mitte vierzig schätze ich sie, aber ich kann mich täuschen. So eine Frau, wie man sie als Akademikerehefrauen trifft, fein herausgeputzt, fein wie ihre ganze Art. Und sie trägt so einen Haarschnitt, natürlich akurat, der Nacken ausrasiert unter nicht mal streichholzlanger Bürste, das längere und deutlich blondere Deckhaar wie zu einem Helm geformt. Und eine Brille hat sie im Gesicht, feiner Goldrand, fein wie die ganze Frau in ihrer zeitlosen Eleganz. Sie stellt sich abseits, tausend Bände spricht ihr Blick. Ihr Blick, der jeden Kontakt vermeidet. «Ich gehör hier nicht dazu. »

Wenn du wüsstest, denke ich. Aber du wirst es schon noch merken. Hier schert keiner aus der Reihe. Ich stell mir meine Kollegen vor, Freud und Frust des Berufslebens bis vor wenigen Tagen geteilt, meinen akademischen, genialen Chef mit der halben Lunge, Eberhard mit den blauen Strahleaugen und die Frau Koller von der Zentrale, unser schönes Scheusal, die nur zu Besuchern nett war und zu einigen ausgesuchten Herrn, auch die. Auch die wird genau wie die anderen in der Herde stehn. Die hat ihren namen zu Recht, und sie hat uns oft genug aufgerieben, aber hier schert keiner mehr aus der Reihe... wenn du erst mal von der Gnade des Staates lebst. Was heißt hier Gnade? rebelliert es kurz in mir. Aber wen kümmern die Beiträge, die ich jahrein jahraus gezahlt habe? Wen interessiert das, wenn du nicht mehr produktives, zahlendes Mitglied der Gesellschaft bist, sondern Leistungsempfänger. Empfänger... lass ich mir das Wort virtuell auf der Zunge zergehn. Wer hat behauptet, Arbeitslosigkeit sei keine Schande mehr?

Endlich machen sie die Tür auf. Endlich... ich schnippe meine gerade erst angezündete Zigarette weg, sie landet auf dem mit flachen, abgerundeten Steinen eingefassten Gartenstück und gibt fortan kleine Rauchsignale. Die Tür ist offen, aber wir stehen Schlange, und so kann ich noch eine ganze Weile meiner Zigarette zugucken, die da nutzlos aber beständig vor sich hinglimmt. Meine Lunge sehnt sich nach ihr.

Im Amt herrscht rege Konfusion, und auf den in sich gekehrten Gesichtern der geschäftigen Beamtinnen, Beamten meine ich einen Hauch von Verachtung, vielleicht auch Ekel zu erkennen. Hier und da ist es mehr als nur ein Hauch. Ich hab vergessen, mir ein Buch einzustecken, zücke meinen Block und fange an zu schreiben. Von jetzt an geht, was ich sehe, direkt durch mich durch auf's Blatt. Nützt es wem?

Hier muss man Zeit mitbringen. Aber als Arbeitsloser hat man die ja wohl und sicher auch nichts Besseres zu tun als hier zu sitzen. Rauchverbot in den Fluren, wie soll's auch anders sein? Die Herde wird geteilt, in verschiedene Gänge getrieben und nimmt innerhalb der nächsten halben bis vollen Stunde beträchtlich zu. Dann ist Ruhe am Einlass, den sie Informationstheke nennen. Der Mann am Tresen hat seine Pflicht für heute erfüllt.

Habt ihr schon einmal das Wunder der Verwandlung erlebt, die Dynamik der Gruppenbildung, wenn in einem wild zusammengewürfelten Haufen der eine plötzlich den anderen in sich selbst erkennt? Man hat was gemeinsam, selbst wenn es nur eine gemeinsame Misere ist, oder gerade dann... und natürlich einen gemeinsamen Feind, personifiziert in den hochnäsigen Gesichtern der geschäftigen Beamtinnen, Beamten.

«Würd die mal so schnell schaffe, wie se mit'm Arsch wackele kann» sagt der Typ und packt seine Ungeduld in ausdrucksstarke Worte. Und ausgerechnet die mit der Goldrandbrille kriegt plötzlich weiche Augen, und ich seh es in ihren Mundwinkeln zucken, als sie den Mann anstarrt. Dabei hatte sie bis eben noch geguckt, als hätt er Läuse, oder die Krätze, oder sonst irgerndeine extrem unappetitliche und extrem ansteckende Seuche. In Wirklichkeit hat er ein lahmes Bein, aber das seh ich auch erst später.

Mir ist nicht langweilig, sitze da ja beschäftigt mit meinen Augen, meinen Ohren, meinem Block, so dass es mich fast stört, als ich an der Reihe bin. Rein ins Büro der gelockten Beamtin, die eine professionell gequälte Miene aufsetzt, noch ehe sie mich anschaut.
«Moin» sag ich... keine Erwiderung.
«Moin», und nun ist sie endlich bei der Sache. Dabei guckt sie so, als hätte ich ihr gerade in den Kaffee gepinkelt... was nicht sein kann, es steht nämlich gar kein Kaffee da. Den geht sie erst nach frühestens jedem zweiten Besucher (Besucher... wie heißen die wohl bei ihr?) trinken. Mädchen, denk ich, du könntest hier so viel Kaffee trinken wie du wolltest, wenn's nur ein bisschen schneller ginge. Stattdessen bestätige ich mit größter Geduld jede einzelne Frage, die ich auch schon in dem ausgefüllten Anmeldebogen, der vor ihr liegt, beantwortet habe. Und sie gibt alles in den PC ein, und als sie über meinen Beruf stolpert, wird sie plötzlich freundlicher, so was wie Wiedererkennungswert auf ihrem Gesicht, denn ich bin Netzwerkbetreuer, und so was haben die hier sicher auch. Dann bin ich auch schon wieder draußen, nächste Warterunde auf'm Gang.

Plötzlich wird's lebhaft. Kommt eine und stürmt direkt ins Zimmer, kaum aufgehalten durch ein empörtes «Heeeh! Das geht aber net... ersma ich!», und das stämmige Weib mit dem Damenoberlippenbart grapscht auch glatt nach der Jacke der Gemeinten und zieht sie aus dem Türrahmen zurück.
«Ich hab ne Nummer» sagt die. «Hat hier noch jemand ne Nummer?»
«Ja ich» eine andere, ebenfalls erst jüngst Dazugekommene «die 522, und Sie?»
Lacht sie «Ich hab auch die 522, da können wir ja zusammen reingehn», und plötzlich sind alle auf'm Gang am Lachen.

Nächster Aufruf, nächstes Büro. Ich sitze einer gestandenen, robusten Frau gegenüber, die mich unter wahrscheinlich gefärbtem Schwarzhaar und durch ihre Brille geradewegs anschaut. Dreht sich zu ihrem PC und wiederholt den Vorgang des Dateninputs.
Sagt's, gibt sich aber trotzdem die Mühe, noch mal nachzuschauen «Für Sie haben wir nichts. Aber Sie bemühen sich ja sicher selbst.»
Ja, sicher mach ich das. Derweil bin ich froh, dass das entweder eine ganz vernünftige Person ist, die da vor mir sitzt, oder dass sie – eher unwahrscheinlich, Beamte verdienen nicht so viel – ein an mein bisheriges heranreichendes Gehalt bezieht. Sonst würd sie's mir am Ende noch gönnen, ich kenn das schon. Aber sie ist ganz freundlich, lobt mich, weil ich alle Unterlagen mitgebracht habe, die so nötig sind, und schickt mich weiter zur Leistungsabteilung.

Neuer Gang, neue Herde, erneutes Warten, noch ein Schreibtischgesicht, aber auch ganz freundich, und schon kurz nach zehn bin ich draußen, hab die ganze Prozedur hinter mir nach gerade mal zwei Stunden.

Über die Straße geh ich zum Wertkauf, da hab ich am Morgen mein Auto geparkt, Vorzugsplatz direkt vor dem Eingang. Natürlich direkt die Zigarette im Mund... muss sein. Die mich vom Parkplatz aus kommen sehn, mustern mich misstrauisch - oder bilde ich mir das nur ein? - weil sie ja gesehen haben, wo ich war.

Ich nehm mir'n Einkaufswagen, ein bisschen Slalom um die Leute rum, rein ins Geschäft. Da steht ein Mädel und zuppelt ganz ungeniert unterm Pullover an ihrem BH. Ich denke jedenfalls, dass sie das tut, obwohl nichts darauf hinweist, dass sie so ein Ding brauchen könnte. Abgerissener Typ am CD-Wühlkasten, Mama mit Kind, das sehnsüchtig interessiert die Regale sondiert.

Ich pack meinen Wagen. Das geht schnell, ich brauch nicht viel. Mein Wagen sieht immer aus wie der eines Hungerleiders, nur für die Katzen hab ich immer reichlich drin. Noch dies und das, und dann kauf ich auch noch ein paar Dosen Bier. Ich bin ja jetzt arbeitslos, und Arbeitslose trinken schließlich Bier. Nichts gefährdet das gesunde Volksempfinden so sehr, wie widerlegte Vorurteile. Darauf will ich es schließlich nicht ankommen lassen.

Schieb meinen Wagen Richtung Kasse. Die Räder gleiten über den glatten Beton, mit dem die Halle ausgegossen ist. Einen Fuß auf die untere Stange, mit dem anderen zwei mal abgestoßen, dann rolle ich auf meinem Wagen stehend durch den Gang. Ein bisschen schneller, und ich würde den Fahrtwind spüren. Das macht Spaß.

 

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