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Die Überlebenden

Copyright Iris Hoth, 1999
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Seit Tagen saßen sie in diesem Loch. Fünf Tage oder fünf Wochen, Karl wußte es nicht mehr, das Zeitgefühl hatte er längst verloren. Fünf Wochen hätte er gesagt, aber er glaubte sich zu erinnern, daß ein Mensch so lange ohne zu trinken nicht überleben kann. Und er lebte. Wenn nicht er, dann auf jeden Fall die Frau, die vielleicht drei Meter von ihm entfernt an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Er hörte ihren rasselnden Atem. Sie lebte, und das war unwiderlegbar. Wie lange der Luftvorrat reichen würde, darüber spekulierten sie nicht mehr. Die Gespräche waren eingeschlafen, mit ihnen die Angst. Ohne Lampe war es stockduster in dem Loch. Aber vielleicht waren sie doch nicht völlig abgeschnitten von draußen, vielleicht gab es von irgendwo eine Luftzufuhr. Seit die Schmerzen aufgehört hatten, atmete er jedenfalls wieder leichter.

Er war aufgewacht, ohne zu sich zu erinnern, daß er geschlafen hatte. Er erinnerte sich an nichts mehr, nicht einmal an seinen letzten Gedanken. Irritiert suchte er nach ihm. Er mußte etwas gedacht haben... aber was? In seinem Kopf war es duster und dumpf wie in der Höhle. Ein paar Meter weiter gab es ein Geräusch. Rechts oder links? Ein Tier? Nein, in diesem Loch lebte nichts außer ihnen selbst. Wieviele waren sie? Mühsam durchpflügte Karl sein Gedächtnis. Sie hatten einander doch bekannt gemacht. Johanna – Johanna, jetzt wußte er es wieder, so hieß die Frau an der Wand gegenüber – hatte alle nach ihren namen gefragt und sie in ein Heft gekritzelt.

Karl spürte etwas Hartes an seiner Hand – die Lampe, er erinnerte sich, wußte nicht, wie lange er brauchte, um die Lampe in den Schoß zu heben, bis er den Schieber fand, um sie anzustellen. Dünnes Licht in der Höhle, die Wände reflektierten braun. Der Lichtpegel suchte nach dem Geräusch, das Karl gehört hatte. Fünf zusammengekauerte Gestalten, tot oder lebendig, im Lichtschein funkelte ein Augenpaar – "Was ist?" – und folgte dem Lampenstrahl. Der Junge rührte sich, wieder das Geräusch, Karl hätte es nie für ein Stöhnen gehalten. War es ein Stöhnen?

"Was ist?" – Diesmal galt die Frage dem Jungen. "Hey Mann!" – es folgte ein Rütteln an der Schulter, das mit mehr Kraft ausgeführt derb ausgefallen wäre. Der Junge stöhnte wieder. Mehr ein Wispern, leidvoll, klagend, melodisch – Karl erschien es wie Sphärenklang, hinter seiner Stirn krausten sich die Gedanken zu Halbschlafenden.

"Kommen Sie her, Karl! Kommen Sie!"

Hatte er geschlafen? Johanna kniete neben dem Jungen. Ihr Profil halb ihm zugewandt, sie sparte mit ihren Bewegungen. "Kommen Sie, Karl!"

Seine Bewegungen fühlten sich schwer an, aber kein Schmerz, als Karl sich langsam nach vorne schob und auf die Knie kam. Die Lampe scharrte über den Boden, er kroch ihr hinterher auf Johanna zu.

"Hier, leuchten Sie!"

Die Haut des Jungen glänzte schweißnass. Eingefallene Wangen über einem zitternden Kiefer, am Hals die dick vibrierende Ader. Schön, dachte Karl – der junge Körper sah schön aus in diesem Halblicht. Der Schweiß konturierte Sehnen und Muskeln. Der Junge war nicht älter als höchstens zweiundzwanzig.

Er schlug die Augen zu Johanna auf, als sie ihn ansprach. "Peter" – Karl wunderte sich über den sanften, vollen Klang ihrer Stimme. Kein rasselnder Atem mehr.

"Mama"

"Ja"

Peter blickte mit flatternden Lidern zu ihr auf.

"Ich werde nicht sterben."

"Nein, das wirst du nicht."

Einen Moment lang musterte der Junge Johannas Gesicht. Dann, als habe er darin eine Antwort entdeckt, löschte Zufriedenheit die Frage von seinem Gesicht. Ein Seufzen, dann glitt er in seine Träume zurück.

Johanna lehnte sich an die Wand. Sekunden oder Minuten, das Rasseln ihres Atems setzte ein.

Hatte er geschlafen? Karl glaubte, Vogelgezwitscher zu hören. Vögel – sann er dem Gedanken hinterher. Was war das? Bis es ihm wieder einfiel, Boten des Frühlings und des Tages, gefiederte Schatten. Das nächste, was Karl wahrnahm, war Licht. Nicht das Halblicht der Höhle. Hell und gleißend war es – woher? – dann ein Fenster, ein Himmel, ein Zweig.
"Er wacht auf."

Bis Karl wieder zu Kräften kam, hatten die Zeitungen schon zu berichten aufgehört. Neun Tage! Neun Tage hatten sie in der Höhle ausgeharrt, bevor man sie entdeckt und ausgegraben hatte, längst in der Erwartung, nur noch Tote zu bergen. Zwei hatten überlebt, Karl wußte nicht, wer der zweite war, hatte auch nicht danach gefragt. Er hatte vor dem Unglück niemanden von den anderen gekannt. Der Zufall hatte sie zusammen in dieses Loch geworfen, sie verschüttet, verschluckt vom Leib der Erde in eine Blase Luft. Letztendlich war es Karl egal gewesen – ob er überleben würde oder nicht, was änderte das? Er dachte an die Frau, die ihn verlassen hatte. Von einem Augenblick zum anderen hatte sie sein Leben vom Weg des Triumphes gerissen, Erfolg war zu einer blassen Wolke am Himmel geworden, unscheinbar und fad, dagegen der morastige Sumpf, weiches Vergessen am Wegesrand, das ihn widerstandslos empfing. Es hatte ihm nichts bedeutet. Welche Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet er überlebt hatte. Nein, nur ein Beweis mehr, daß es kein Schicksal gab, weder gnädig noch gerecht. Nur eines, das dem Leben schenkte, der dessen nicht mehr bedurfte. Karl pendelte zwischen Schlaf und Wachen, kein trostspendendes Refugium, weder in seinen Träumen noch in seinen Gedanken. Mittags stach die Sonne in Karls Augen, und er schloß die Jalousien. Die Ärzte meinten, er leide noch am Schock.

Tage später. "Sie haben Besuch."
Karl wollte keinen Besuch. Aber immerhin erreichte ihn ein Zipfel der Neugier: wer? Die Frau, die dann das Zimmer betrat, kannte Karl nicht, hatte sie noch nie gesehen. Er blickte sie wortlos an, wartend. Sie setzte sich, erwiderte seinen Blick, nach einer Weile lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Lehnte sich zurück...
Karl ging zum Fenster und schloß die Jalousien, Halbdunkel. Und plötzlich war die Frau ihm vertraut. "Johanna!"

Sie kam wieder. Johanna war eine anspruchslose Besucherin, und so war es Karl recht. Sie setzte sich auf den Stuhl und sagte nichts. Wenn Karl die Jalousien schloß, war es, als könnten sie die Zeit anhalten. Karl floh in die Höhle zurück. Da war dieser Junge gewesen, richtig, Peter hieß er. Er war jung gewesen. Karl erinnerte sich an die Szene, an die gläubigen Augen des Jungen. Bedingungsloses Vertrauen - selbst noch als er die Augen schloß, war er überzeugt zu überleben.
"Sie haben Ihren Sohn verloren" sagte er einmal.
Und Johanna: "Ich habe viele Söhne verloren." Ohne weitere Erläuterung.
Vage empfand Karl ein Schuldbewußtsein. Warum er? Warum hatte ausgerechnet er überlebt? Karl erinnerte sich. Er hatte einst das Leben wie eine warme Sonne in sich gespürt, Energie und Zukunft im Überfluß, Zuversicht. Da war sie noch bei ihm gewesen, und es war lange her. Aber der Junge war gestorben.
"Waren Sie bei Bewußtsein?"
Johanna blickte ihn fragend an.
"Als er starb." Und auf Johannas ratenden Blick hin "Peter, Ihr Sohn."
"Oh. Er war nicht mein Sohn." Und diese Wahrheit traf Karl wie ein Schlag.
Dann, als suche er eine Antwort darin, musterte Karl Johannas Gesicht, fand sie, sah - "Wir leben!" - samt ihrem Mut dazu.

 

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