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Unterwegs

Copyright Iris Hoth, 2000
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Er kommt aus dem Inneren. Wie er dort hineingelangt, ist ein bisschen rätselhaft, wenngleich für einen Geologen sicher leicht erklärbar. Vielleicht hätte es auch schon genügt, in der Schule besser acht zu geben. Jedenfalls ist er dort drinnen. Denn es muss etwas drinnen sein, ehe es herauskommen kann. Aus dem Berg, dem Gestein, dem Inneren der Erde. Dort quillt er hervor irgendwo zwischen Glarner und Graubündner Alpen. Dort in seiner schweizer Wiege, vielleicht klein, vielleicht eine stolze Fontäne, hat sie ihn nie gesehen. Er durchfließt seine Kindheit von Chur aus an Vaduz vorbei. Auch dort war sie nie. Weiß nichts von grünen Weiden, weißen Gipfeln vor blauem Grund, vom Alpenhorn, von den Tälern im Appenzeller Land, von denen jedes ein Dorf und jedes Dorf einen Kirchturm hat. Er ist prächtig jung dort, fröhlich ist er, wenn er sich vermählt. Völliges Durchdringen des Einen durch den Anderen, glücklich sind sie und eins. Sie funkeln zusammen in der Sonne, und sie lieben einander im Schnee. Fünfzig Kilometer Glückseligkeit zwischen Bregenz und Konstanz. Dort lässt er seine Jugend und zieht weiter. Nach Norden durch das flacher werdende Land, während die Berge zu Silhouetten schrumpfen. Aus der Ferne kaum mehr größer als ein Kiesel. Die Kiesel in seinem Bett sind ihm Andenken an seine Jugend. Er bewahrt sie, schleift sie blank, hin und wieder spült er einen an Land - dort, wo er noch ufern darf. In Basel schenkt ein Kind ihm eine Flaschenpost, in Straßburg eine Diwa ihren Schal. Alles nimmt er mit.

Vom Bahnhof kommend durchquert er die Neustadt. Neu in den 70er Jahren, nun nicht mehr. Nun trister Fassadenbau, quadratisch, mit quadratischen Spielplätzen, gepfercht zwischen den Häusern erster und zweiter Reihe. Fahrradständer vor den Eingängen, Laub auf den Straßen, rheinwärts ein Kiosk, an dem man Eis und heiße Würste kaufen kann. Von dort zur Allee, dann stadteinwärts gehen. Dort sind eine Treppe und ein Platz. Der Platz mit Kastanien bestanden, die Treppe endet in einer Mauer, die tief ins Wasser reicht. Dort sitzt er mit seinem Rucksack und fünf Flaschen Bier. Das Jahr schon gealtert, morgens steigt Nebel aus dem Fluss. Auf der Treppe sitzend fröstelt er. Den linken Schuh zieht er aus und reckt die Zehen. Aber er hat den Schuh achtlos zur Seite gelegt. Auf einer Stufe liegt er und kippt plötzlich auf die nächste und von dort auf die nächste Stufe. Es ist ein Golden Retriever, der die Beute macht, jagd mit dem Schuh davon, ein Mensch mit Leine läuft rufend hinter ihm.

Ist er noch er selbst? Andere haben ihre Erfahrungen mit ihm geteilt, sind in ihm aufgegangen, und er... ist nun ein Stück weit sie? Fast wird er breit, fast weitet er sich zum See, träumt zwischen den Auen, ahnt nicht die Kluft, Schnelle und Fall, die ihn erwarten, ruht und fließt.

Sie hat ihn in Köln gesehen, in Bonn, längst schon Lahn und Mosel vereinnahmt, die seither mit ihm fließen. Aber nur hier ist er ihr vertraut, hier trifft sie ihn. Am Burgensaum, im schmalen Tal, wo er zwischen den steilen Hängen Kurven treibt. Gegenüber der Felsen, den Legenden und Lieder umranken. Hier hat er eine Bank aus Sand. Sie sitzt ihm zur Seite. Er nicht mehr jung und sie auch nicht mehr. Beide erfahren, beide keineswegs hoffnungslos. So sitzen sie beieinander wie im Gespräch vertieft. Und der gleiche Wind, der seine Wellen zupft, zaust ihr das Haar. Hier hat sie eine Flaschenpost aufgelesen mit einem aufgeweichten Zettel darin, den sie nicht entziffern konnte. Hier schenkt sie ihm ihre flüsternden Gedanken im Tausch gegen einen nassen Schuh. Dann wird sie flussaufwärts ziehen und sich nicht wundern: Er ist so jung wie er alt ist. Ständig unterwegs und doch immer zuhaus.

 

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