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Die Irritation des Beamten Bloch

copyright Jens Richter, 1998
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Um 6 Uhr 55 biss Bloch zum dritten Mal in seine Honigschnitte. Noch vor drei Jahren hätte er um diese Zeit die gesamte Schnitte verspeist gehabt, aber da wohnte er an einem anderen Ort und hatte es weiter ins Büro.
Bloch schaute noch einmal kurz auf die Küchenuhr, verglich die Zeit mit der auf seiner Armbanduhr und zog den Mantel an, den seine Frau bereits mit unruhigem Blick bereithielt.
Bloch war an diesem Morgen fahrig, nervös, zu schnell in seinen Bewegungen, und so bekam seine Frau noch einen zweiten Kuss auf die linke Wange. Das verbrauchte etwas von der unnütz eingesparten Zeit, und Bloch konnte um 7 Uhr 20 auf den Bürgersteig treten.
Um 7 Uhr 27 trat er durch das Eingangsportal der Behörde, winkte dem Pförtner kurz zu, um dann nicht zu hastig die Treppe hinaufzugehen. Die anderen Angestellten seines Bürotraktes warteten schon. Als Bloch durch die Schwingtür kam, stellten alle ihre Uhren auf 7 Uhr 29, Dottermann rief den Pförtner an, und dieser stellte die Behördenuhr.

Bloch betrat sein Büro, wünschte 'Guten Morgen' und fragte nach der Akte Kiesel gegen Grund, ob sie denn schon auf seinem Schreibtisch läge. Selbstverständlich lag sie schon dort. Bloch setzte sich, verglich die Bürouhr mit seiner Armbanduhr und dem kleinen Reisewecker, den er für alle Fälle dabeihatte, denn quarzgesteuerte Uhren, so hatte er gelesen, könnten bei gewissen Änderungen des Erdmagnetfeldes ihre wohltuende Zuverlässigkeit unter Umständen einbüssen.

Bloch atmete tief durch. Zu Hause fühlte er sich nie so richtig wohl. Unwägsamkeiten, Ärger mit den Nachbarn, die sein Drängen auf pünktliche Mittagsruhe nicht ernst nahmen, überhaupt war kein Verlass, eigentlich auf niemanden.
Seine Frau hatte dazugelernt, sicher. Aber was kostete das an Mühe! 'Ich komm so gegen acht oder halb neun'. Es war diese Wankelmütigkeit, die ihn masslos ärgerte. Acht ist doch nun einmal acht, und halb neun ist halb neun. Warum müssen sich die Menschen in diese Ungewissheiten stürzen? Warum konnte seine Frau Doris nie das beglückende, dieses ungeheure Gefühl der Geborgenheit nachempfinden, wenn jemand voraussagt, er komme um acht und kommt um acht!

Zeit faszinierte Bloch schon immer. Auf sie konnte er sich verlassen. Jeden Tag um zwölf konnte er feststellen, dass es tatsächlich zwölf und nicht etwa halb eins war.

In einem scheusslichen Traum hatte man ihm seine Uhren gestohlen, und niemand konnte ihm die Zeit ansagen. Er hatte mit der Zeitansagefrau telefoniert. Die empfahl ihm, sich eine Zeit auszusuchen. "Wissen Sie was? Sind Sie hungrig? Sehen Sie, wären Sie überhaupt nicht hungrig, wäre es doch ungünstig, Ihnen 12 Uhr anzubieten! Wann wollten Sie dann Mittag essen? Um 17 Uhr?"

Bloch erwachte und sah sofort auf seine Armbanduhr, alles war in Ordnung. In drei Minuten würde sein Wecker klingeln, in dreizehn sein zweiter.

Obwohl an diesem Morgen alles wie vorgesehen funktionierte, passierte etwas Unglaubliches. Bloch verspätete sich. Er verspätete sich um 2 Stunden und 13 Minuten. Weil jedoch so etwas undenkbar schien, registrierten die Angestellten der Behörde diese Verspätung nicht, sondern stellten ihre Uhren um 9 Uhr 43 auf 7 Uhr 30.

Bloch sass am Schreibtisch und starrte seine Bürouhren an. Irgendetwas Unbegreifliches war geschehen. Er rekonstruierte den morgentlichen Ablauf. Er war pünktlich aus dem Haus gegangen, das stand fest. Er marschierte so schnell wie an jedem Morgen. Hatte man ihn betäubt? Überfallen? Oder war es schlimmer? Unternahm er vielleicht noch eine Spazierfahrt, ohne sich dessen bewusst zu sein? Er überlegte weiter. Nein, irgendjemand hatte sich einen gemeinen Scherz erlaubt, seine Arbanduhr heimlich verstellt, die Bürouhren manipuliert. Man wollte ihn also ausschalten. Das war es. Gabelmann lauerte schon lange auf seinen Posten. 'Er wird ihn nicht bekommen', sagte Bloch laut und stellte alle Uhren wieder exakt ein.

Pünktlich um 12 machte er sich auf den Weg zur Kantine. Niemand war zu sehen. Sonst waren sie gemeinsam gegangen, Bloch hatte nur den Kopf ins Vorzimmer gestreckt: '12 Uhr - Essen' Heute war niemand da. Auch die Kantinentür war verschlossen. Bloch telefonierte den Pförtner an.

"Herr Bloch, es ist 22 Uhr, natürlich ist niemand in der Kantine! Ausserdem ist heute Sonntag! Ihre Frau versucht schon seit Tagen Sie zu erreichen, Sie möchten auf keinen Fall zu spät zur Sylvesterparty kommen!"
"Heute ist der 31. Dezember?" Blochs Stimme zitterte.
"Selbstverständlich. Der 31. Dezember 2008, genau 10 Jahre nach Ihrer Pensionierung!"

Bloch liess den Hörer fallen und sah ihm nach, wie er langsam zu Boden fiel, lautlos aufprallte und sich auflöste. Es war also nur ein Traum. Er hörte sein Herz schlagen, zwickte sich heftig, um endlich aufzuwachen. Aber Bloch wachte nicht auf. Langsam, wie in Honig getaucht, schwebte er aus dem Amtsgebäude irgendeiner Zukunft oder Vergangenheit entgegen.

 

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