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Fridolin, der Resteesser

copyright Jens Richter, 1998
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Meine erste Begegnung mit Fridolin liegt 15 Jahre zurück. Ich stürzte an jenem Vormittag die drei Treppen hinunter, um eine Tüte Milch zu kaufen. Plötzlich rissen mich die Worte einer Nachbarin aus der Eile und ließen mich stoppen.
Warum ich so plötzlich anhalten musste, beschäftigte mich den ganzen Tag. Die Schwatzhaftigkeit dieser Nachbarin hatte mich nämlich immer zu noch größerer Eile angetrieben, und das, was sie an diesem Vormittag sagte, war auch ein dummes Geschwätz, und doch mußte ich plötzlich anhalten und ihren törichten Worten lauschen, obwohl ich gerade an diesem Vormittag in größter Eile war, denn in einer Stunde musste ich in meinem Gymnasium erscheinen, um die mündliche Abiturprüfung abzulegen. Nicht, dass ich etwa die Prüfung fürchtete. Ich war der beste Turner der Schule, und die Sporthochschule erwartete sehnsüchtig mein Kommen.

Ich muss heute zugeben, dass die Prüfung besser ausgefallen wäre, wenn die banalen Worte der Nachbarin mich nicht erreicht hätten. Die Note 4, so muss ich heute eingestehen, war ein Gnadengeschenk der Prüfer. Meine gestammelten Antworten waren verworren, das gestehe ich heute ein. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie die Prüfung ausgefallen wäre, wenn die Nachbarin nicht einer anderen Nachbarin erzählt hätte, dass ihr 2 Monate alter Sohn Fridolin immer den Rest aus dem Fläschchen eines anderen Säuglings trinke, welcher ebenfalls im Hause lebte und sein Fläschchen immer nur zur Hälfte leerte.

Die Belanglosigkeit dieser Bemerkung ist kaum zu überbieten, und die Vermutung liegt nahe, dass die Nachbarin den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als andere Hausbewohner mit ihren Unwichtigkeiten zu belästigen.

Ich habe immer die abgelegten Kleidungsstücke meines älteren Bruders aufgetragen, notierte ich am Nachmittag dieses Tages in ein Heft, das ich mir gleich nach der Prüfung gekauft hatte. Die Immatrikulationsunterlagen schob ich beiseite, denn ich wollte in keiner Weise abgelenkt werden. Nach kurzem Nachdenken schrieb ich auf, dass die Kleidungsstücke meines Bruders zwar gebraucht und teilweise ramponiert waren, gleichwohl vollständig an mich weitergegeben wurden. Fridolin dagegen trank ja nicht gebrauchte Milch, sondern einen Rest.

Voller Spannung wartete ich auf den Tag, an dem Fridolin feste Nahrung bekommen würde.

Wie ich es erhoffte, aß er den Rest aus dem Gläschen des Nachbarkindes, welches seines nur zur Hälfte leerte.
Inzwischen hatte ich ermittelt, dass die redselige Mutter jeden Vormittag zur selben Zeit mit der anderen Frau tratschte. Die Stimmen der Frauen waren schrill und über mehrere Stockwerke gut zu verstehen.

Mein Vater hat oft die Reste von unseren Tellern verschlungen, aber das ist ein anderer Sachverhalt, notierte ich in mein Untersuchungsheft.

Fridolin war zu einem zarten Kind von drei Jahren herangewachsen. Er spielte ausschließlich mit dem feingliedrigen, schlanken Nachbarkind, das ihm hin und wieder ein halbes Brötchen schenkte.

Ein Jahr später lud ich beide Kinder zu mir ein, nachdem ich eine sorgfältige Versuchsanordnung vorbereitet hatte. Auf dem Tisch hatte ich diverse Nahrungsmittel, ganze und halbe, angeordnet. Auch Spielzeuge waren von mir entsprechend präpariert worden. Was würde geschehen?

Ich setzte mich in einen Sessel, das Heft auf den Knien, den Kugelschreiber in der Hand. Fridolin schob einen zweiträdrigen LKW über den Teppich, während das andere Kind eine ganze(!) Torte anfing zu essen. Dieses Handlungsmuster entsprach meinen Erwartungen. Ich überreichte Fridolin einen ganzen(!) Luftballon, er schob ihn desinteressiert zur Seite, spielte dann jedoch mit dem Luftballonfetzen, nachdem das andere Kind jenen zerstört hatte. Ich konnte vor Aufregung nichts essen.

Ein Jahr später lud ich die Kinder erneut ein und überraschte sie mit der Ausschließlichkeit einer halben Melone. Beide Kinder standen paralysiert vor dem geteilten Gegenstand. Die Intelligenz der Kinder entzückte mich. Fridolin nahm den Teil als Ganzes wahr, das andere Kind als die Hälfte. Fridolin wartete auf die Teilung, das andere Kind verschmähte die Hälfte.

Mein Orthopäde teilte mir mit, dass ich eine ausgeprägte Kyphose entwickelt habe, wahrscheinlich die Folge zu langen gebückten Sitzens.

Fridolin besuchte mit dem anderen Kind inzwischen die Grundschule mit grandiosem Erfolg. Beide wechselten nach drei Jahren zum Gymnasium.

Die Sporthochschule lehnte mich entschieden ab. Ich war keineswegs unglücklich, denn mein Interesse hatte sich grundlegend geändert.

Inzwischen studieren beide Kinder mit einem Hochbegabten-Stipendium am Max-Planck-Institut Physik. Fridolin glänzt in der Teilchenphysik, das andere Kind hat sich der Astrophysik verschrieben. Ich habe herausgefunden, dass sie in der Mensa stets am selben Tisch sitzen.

Gerade heute hat ein Wissenschaftsverlag meine sozial-psychologische Studie mit der Anmerkung abgelehnt, sie müsse um die Hälfte gekürzt werden. Die Mutter Fridolins ist in Folge eines Schocks stumm geworden. An die mündliche Abiturprüfung denke ich kaum noch.

 

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