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Umanns innere Stimme

copyright Jens Richter, 1999
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"Sind denn der Leiden nicht genug?" schrie Umann an diesem Tag in die finstere Neumondnacht hinaus. Das Missgeschick, das ihn eben ereilte, war nur der unappetitliche Höhepunkt des verpfuschten Tages. Ein üppig gehäufter Esslöffel eines mexikanischen Bohneneintopfes fiel, noch bevor er Umanns Mund erreichte, auf die frisch gewaschene Hose; der flüssige Anteil setzte seinen Weg an den Hosenbeinen fort und erreichte schließlich die weißen Schuhe. Umann fühlte sich wie ein besudeltes Schwein und sah auch so aus.

Das Ganze fing an, als Umann nach Büroschluss mit gesenktem Kopf durch die Straßen trottete und darüber nachgrübelte, warum gerade ihm die Straßenbahnen vor der Nase wegfahren. Auf der Bank an der Haltestelle setzte er seine Überlegungen fort und bemerkte die Straßenbahn nicht. Erst das kräftige "Ring" der losfahrenden Bahn weckte ihn aus den Gedanken. Da es sich um die letzte Bahn handelte, erübrigte sich das Warten, und weil die Taxifahrer streikten, versuchte Umann einen Privatwagen anzuhalten. Er geriet an einen Kraftfahrer, der ihn mitnehmen wollte, es dann jedoch vorzog, Umanns Brieftasche zu entwenden. Normalerweise schätzte Umann längere Spaziergänge, an diesem regnerischen Abend nicht.

Durchgefroren und nass erreichte er seine Wohnung, und dann passierte die Sache mit dem mexikanischen Bohneneintopf, gleich nachdem er sich umgezogen hatte.
Umann legte sich aufs Bett und dachte über sein Pech nach. "Warum", zürnte er, "warum immer ich? Allen geht es gut! Was habe ich nur getan, dass mir die Welt so übel mitspielt?"
Da passierte es. Umann vernahm plötzliche eine Stimme, nicht seine, aber eine ähnliche. "Denk an Vaumann", rief die Stimme, "du weißt doch, der seine Frau erschlagen wollte und das rostige Beil ausversehen in den eigenen Oberschenkel trieb! Nebbich, ein armer Teufel! - Oder Wemann, der seine Haare im Suff mit Schwefelsäure spülte; schau ihn an, eine Katastrophe!" Die Stimme verstummte.

Umanns Herz klopfte heftig, er wanderte durchs Schlafzimmer, lauschte angestrengt. Was war das? Ein Scherz? Vaumann, Wemann - er hatte noch nie etwas von denen gehört! Er horchte an der Wand. Seine Nachbarn, diese unangenehmen Leute, könnten ihm den Streich gespielt haben. Doch in der Nachbarwohnung schlief alles. Er hörte das penetrante Schnarchen der Nachbarin, die ausgerechnet Kopf an Kopf mit Umann schlief.

"Und das Schnarchen, he? Dieses unerträgliche Schnarchen?" Umann setzte sich, legte das Kinn in die Hand und wartete. Da war sie wieder, die clownhafte Stimme. "Nu, und der Vaumann! Er schläft Kopf an Kopf mit der eigenen Frau! Sie schnarcht nicht, gut, aber sonst tut sie alles! Was glaubst du, warum er die Socken über die Hände zieht und mit sich selber spricht?"
"Und die Straßenbahn? Verpasst er auch andauernd die Straßenbahn?"
"Er hat schon einmal das letzte Schiff verpasst und ist nach Palestina geschwommen - als Nichtschwimmer!"
"Aber rote Soße auf weißen Schuhen ist doch nicht hübsch!?"
"In manchen Restaurants bekommst du weiße Schuhsohlen in roter Soße. Auch nicht hübsch. Sie nennen es Schnitzel!"
"Letzte Woche wurde ich beim Frisör nicht bedient!"
"Wemann wurde letzte Woche bedient und steht jetzt im Schreckenskabinett!"

"Du bist ein Besserwisser! Was weißt du schon vom schwierigen Leben? Nichts!"
Inzwischen hatte Umann seine Schuhe gereinigt und sich der befleckten Hose entledigt. Geistesabwesend stellte er seine Weckzeit fünfzehn Minuten früher ein und stopfte sich Oropax in die Ohren.

Zwar vernahm er von nun an kein Schnarchen mehr, auch sollte er keine Straßenbahnen mehr verpassen. Sein Körper straffte sich sogar, und schon bald wurde seine Gelassenheit gerühmt, sein Humor geschätzt. Nur die seltsame Erscheinung, seine innere Stimme war verschwunden. Aber bekanntlich kann der Mensch nicht alles haben, und da macht Umann keine Ausnahme.

 

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