Zettmann liest Watzlawickcopyright Jens Richter, 1998zur Navigation Es geschah an einem dieser trüben Julitage. Die Sonne schien matt herab, das dumme Blau des Himmels trug seinen Teil zur allgemeinen Schwermut bei wie die idiotischen Blumen, die unmotiviert in den Vorgärten herumstanden. An so einem Tag schlenderte Zettmann durch die Straßen seiner alten Heimatstadt. Er schaute dem Treiben zu, ohne Interesse. Gerade wollte er, wie jeden Tag, in 'Carlos Kalbskontor' seine Kalbshaxe verzehren, als er vor einem Buchladen plötzlich stoppte. Das war durchaus ungewöhnlich, denn Zettmann hatte noch nie ein Buch gekauft. Die wenigen, die er gelesen hatte, hatte er sich von Bekannten geborgt und nie zurückgegeben. Jetzt wurde er magisch von einem Titel angezogen: 'Anleitung zum Unglücklichsein'. Das Buch erschien ihm vielversprechend. Lange schon suchte er nach irgendwas, nach irgendeiner Möglichkeit, seiner Frau, Dora Zettmann, alles heimzuzahlen. Er hasste seine Frau, die sich weigerte, ihm seinen über alles geliebten Kalbsbraten auf den Tisch zu bringen, mit der Begründung, er möge in Wirklichkeit überhaupt keinen Kalbsbraten und hätte dieses Ansinnen nur, um ihr eine Freude zu machen. Er hatte alles versucht. Er hatte sich auf die Knie geworfen, gebettelt, gefleht. Seine Frau glaubte ihm nicht. Das hatte Folgen. Liebte er früher einen saftigen Kalbsbraten, so war er ihm heute verfallen. Jeden Tag trieb es ihn in 'Carlos Kalbskontor', jeden Tag stand er in der zugigen Imbissbude und verschlang gierig die Haxe. Als er seiner Frau davon erzählte, schüttelte sie den Kopf und unterstellte ihm 'latente Mordgelüste'. Darauf hin wollte er seine Frau mit einem heißen Bügeleisen plätten, besann sich aber noch und lief zu 'Carlos Kalbskontor'. Jetzt lag da etwas im Schaufenster, das eventuell noch Rettung bringen
konnte. Seine Frau hatte ihm zwei Hemden geschenkt, von denen er eines sofort anzog, weil er schon seit Monaten im Unterhemd herumlief. Seine Frau grinste und bemerkte: "Ich weiß, dass dir das andere besser gefällt, aber du willst mich ärgern." Sofort zog er das Hemd wieder aus und verbrannte beide Hemden, eine Leichtsinnigkeit, denn der Winter stand vor der Tür. Kein Wunder, dass er bald mit einer Grippe und hohem Fieber im Bett lag. Seine Frau zog zu ihrer Mutter, weil sie es für sinnvoll hielt, den Kranken nicht zu pflegen, wegen des immerhin möglichen 'sekundären Krankheitsgewinns'. Im übrigen betrachtete sie den Ausbruch der Krankheit als Aversion und Mordlust, die sich ins Somatische verschoben hätte. Aber das waren Belanglosigkeiten. Was ihn wirklich zur Weißglut bringen
konnte, waren die allabendlichen Fragespielchen seiner Frau. Und da waren noch andere Begebenheiten, die ihm das Leben schwer machten. Sein Nachbar Essmann zum Beispiel. Der kam täglich zu ihm, klopfte wie ein Wilder an die Tür, und wenn Zettmann öffnete, streckte ihm Essmann einen Hammer entgegen: "Hier, nehmen Sie, Sie Rüpel, nehmen Sie diesen verfluchten Hammer, den Sie ausleihen wollten!" Zettmanns Beteuerung, er könne mit einem Hammer gar nichts anfangen, stieß auf taube Ohren. "Werden Sie nicht noch frech! Und wenn Sie den Hammer nicht bis heute Abend zurückbringen, setzt es was!" Essmann schlug die Tür zu, und Zettmann legte den Hammer auf die Hutablage. Seine schulpflichtigen Kinder vergällten ihm auch das Leben. Erst gestern fing ihn sein zwölfjähriger Georg ab. "So, du meinst also, ich müsse nicht nur Schularbeiten machen, sondern sie auch gerne machen?" Dabei drückte er seinen Vater an die Wand. "Aber Georg, Kind, wer macht schon gerne Schularbeiten?" Georg schüttelte ihn und gab ihm eine Ohrfeige. Zettmann klopfte sich den Mauerputz von der Hose und floh in 'Carlos Kalbskontor'. Der Wirt empfing ihn wie üblich, indem er den Kopf zur Seite drehte und
Zettmann erst einmal einige Stunden warten ließ. Zettmann betrat den Buchladen und kaufte das Buch. In der U-Bahn las er es in einem Zug durch und kicherte wie eine Hyäne dabei. Zu Hause angekommen drehte er einen Fidibus aus den Buchseiten und zündete sich drei Zigarren an.
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